2. Teil der Seminarreihe ‘Grundlagen der Dynamischen Psychiatrie’
Dipl.-Psych. Michael Flor
November 2022
Humanstruktur und das Ich-Struktur-Modell
“Jahrzehntelange praktische Erfahrungen sowie die systematische Verallgemeinerung theoretischer Forschungsergebnisse führten zu grundlegenden Revisionen und Neuorientierungen der psychoanalytischen Theorie.”
(Deutschmann, 1979, S. 47)
“Die Dynamische Psychiatrie und ihr theoretisches Fundament, wie es sich im ich-strukturellen Konzept Ammons darstellt, hat einen Teil ihrer historischen Wurzeln in der orthodoxen Freudianischen und ich-psychologischen Psychoanalyse.”
(Deutschmann, 1979, S. 47)
Freud [begreift] die Persönlichkeit wesentlich von deren Triebgrundlage her, und so erscheint eben auch das Ich lediglich als eine Art Verlängerung des Es. In ‘Das Ich und das Es’ heißt es: ‘Ein Individuum ist nun für uns ein psychisches Es, unerkannt und unbewußt, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf, aus dem W-System (Wahrnehmungssystem, M. D.) als Kern entwickelt’ (Freud 1923)."
(Deutschmann, 1979, S. 47)
(Freud, 1911, S. 65)
“Wir […] sehen in ihm [dem Trieb] den psychischen Repräsentanten organischer Mächte und nehmen die populäre Unterscheidung von Ichtrieben und Sexualtrieb an, die uns mit der biologischen Doppelstellung des Einzelwesens, welches seine eigene Erhaltung wie die der Gattung anstrebt, übereinzustimmen scheint.”
(Freud, 1911, S. 65)
“Das Ich ist doch nur ein Stück vom Es, ein durch die Nähe der gefahrdrohenden Außenwelt zweckmäßig verändertes Stück.”
(Freud, 1933, S. 107)
“Wichtig und neu ist nun, daß Hartmann (1939) die Annahme empfiehlt, ‘daß sowohl der Triebvorgang als auch der Ich-Mechanismus auf eine gemeinsame Wurzel aus der Zeit vor der Ich-Es-Differenzierung zurückgehen’.”
(Deutschmann, 1979, S. 76)
“Der erste entscheidende Schritt auf diesem Weg geschah durch die Neuformulierung des Aggressionskonzeptes in den späten sechziger Jahren. In Loslösung von der Freudianischen Theorie des Aggressionstriebes nahm Ammon die Aggression im Sinne des ‘ad gredi’ als eine primär konstruktive Entwicklungskraft des Menschen an”
(Burbiel, 1997, S. 145)
Aggression als eine primär konstruktive Entwicklungskraft, “die sich lebensgeschichtlich erst durch spezifische destruktive Gruppendynamiken zu dem entwickelt, was gemeinhin unter Aggression im Sinne einer zerstörerischen Kraft verstanden wird (Ammon 1970).”
(Burbiel, 1997, S. 145)
konstruktiv | destruktiv | defizitär |
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kontaktherstellend, beziehungsstiftend‚ weiterentwickelnd, integrierend, aufbauend. | kontaktabbrechend, arretiert, fehlentwickelt, desintegrierend, zerstörerisch. | kontakt- und beziehungslos, nicht entwickelt. |
Realitätsbezogen | Verzerrter Realitätsbezug | Fehlender Realitätsbezug |
(Ammon et al., 1998 S. 26)
“Der Ich-Struktur-Test nach Ammon (ISTA) wurde entwickelt als ein psychoanalytisch orientierter Persönlichkeits-Fragebogen, der auf der humanstrukturellen Theorie der Dynamischen Psychiatrie Günter Ammons basiert.”
(Dieses und alle folgenden Zitate aus dem ISTA Manual, Ammon et al., 1998)
Der ISTA erfasst “Aggression, Angst, Abgrenzung nach außen und innen, Narzissmus und Sexualität auf 18 Skalen mit insgesamt 213 Items. Gemessen werden jeweils die konstruktiven, destruktiven und defizitären Ausprägungen dieser Humanfunktionen.”
“Der ISTA soll möglichst differenziert den momentanen Entwicklungsstand der Persönlichkeit eines Menschen in ihren unbewussten Strukturmerkmalen und durch Verlaufsmessungen deren möglichen Veränderungen erfassen, d.h. er soll veränderungssensitiv sein und wesentliche Persönlichkeitsvariablen ansprechen.”
konstruktiv | desktruktiv | defizitär |
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Zielgerichtete und kontaktherstellende Aktivität gegenüber sich selbst, anderen Menschen, Dingen und geistigen Inhalten. Fähigkeit, Beziehungen und Aufgaben durchzuhalten, Standpunkt zu beziehen. Aktive Lebensgestaltung | Fehlgerichtete, kontaktabbrechende, zerstörerische Aktivität gegenüber sich selbst, anderen Menschen, Dingen und geistigen Aufgaben. Gestörte Aggressions-Regulation i.S. destruktiver Durchbrüche, Entwertung anderer Menschen, Zynismus, Rache | Generell fehlende Aktivität, keine Kontaktaufnahme zu sich selbst, zu anderen Menschen, Dingen, geistigen Inhalten. Passiv, zurückgezogen, teilnahmslos, leer. Vermeiden von Rivalität und Auseinandersetzung |
(Ammon et al., 1998 S. 26)
konstruktiv | desktruktiv | defizitär |
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Fähigkeit, Angst zu spüren, zu verarbeiten und situationsentsprechend zu handeln. Gesamt-Aktivierung der Persönlichkeit, realistische Gefahren-Einschätzung | Überflutende Todes- oder Verlassenheits-Angst, handlungs- und beziehungsverbietend. Vermeidung neuer Erfahrungen mit der Folge einer Entwicklungsarretierg. Dysregulation | Unfähigkeit, Angst bei sich und anderen wahrzunehmen u. zu spüren. Keine Schutzfunktion u. Regulation durch Gefahrensignale |
konstruktiv | desktruktiv | defizitär |
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Flexibler Zugang zu Gefühlen und Interessen anderer, Fähigkeit, zwischen Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden. Beziehungsregulation zwischen Personen und Umwelt, Regulation von Nähe und Distanz | Starre Abgrenzung gegenüber den Gefühlen und Interessen anderer Menschen. Mangelnde emotionale Anteilnahme, fehlende Kompromiss-Bereitschaft, Unsensibilität, Selbst-Isolation | Unfähigkeit, Nein zu sagen, zwisch. sich und anderen zu differenzieren. Chamäleonhafte Übernahme der Gefühle u. Standpunkte anderer; soziale Überangepasstheit, Angst vor Vereinnahmung |
konstruktiv | desktruktiv | defizitär |
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Flexibler, situationsbezogener Zugang zum eigenen Unbewussten, zu eigenen Gefühlen, Bedürfnissen. Traumfähigkeit. Phantasie ohne Realitätsverlust. Fähigkeit zwischen Gegenwart u. Vergangenheit unterscheiden zu können | Fehlender Zugang zum eigenen Unbewussten, starre Barriere gegenüber eigenen Gefühlen, Bedürfnissen. Mangelnde Traumfähigkeit, Phantasie- u. Gefühlsarmut, fehlender Bezug zur eigenen Geschichte | Fehlende Grenze zum Unbewussten, Überschwemmung mit unbewussten Inhalten. Ausgeliefertsein an Gefühle, Träume u. Phantasien. Konzentrations- und Schlafstörungen |
konstruktiv | desktruktiv | defizitär |
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Freundliche und realitätsgerechte Einstellung zu sich selbst, positives Gefühl der eigenen Bedeutung u. Wichtigkeit, liebevoller Umgang mit eigenen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen, dem eig. Körper, Schwächen | Unrealistische Selbsteinschätzung, privatistische Wahmehmungswelt, Negativismus, häufiges Gekränktsein, Gefühl nicht verstanden zu werden. Unfähigkeit, Kritik oder Zuwendung (“Sozialenergie”) anzunehmen | Fehlender Bezug zu sich selbst, fehlende Selbstliebe. Gefühl eig. Bedeutgslosigk. Austauschbarkeit. Zurücknahme eigen. Interessen und Bedürfnisse. Wird häufig übersehen und vergessen |
konstruktiv | desktruktiv | defizitär |
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Beziehung und echter Kontakt zwischen Partnern auf körperl.‚ geistiger und seelischer Ebene. Empfinden von Freude und Wärme über den anderen u. sich selbst, Fähigkeit zu Güte, Hingabe u. Fürsorge, Verspieltheit, Fähigkeit zu erotischer Phantasie | Instrumentalisierung des Partners zwecks eigener Bedürfnisbefriedigung. Sexualität als “gegenseitige Onanie”.0hne Freude an der Freude des anderen. Einem von beiden Partnern wird geschadet, Desinteresse an genitaler Sexualität, statt Nähe u. Vertrautheit, Kontakt- und Beziehungslosigkeit | Weitgehend Verzicht auf gelebte Sexualität, verinnerl. Sexualverbot, verbunden mit starker Ansteckungs- oder Berührungsangst, Impotenz, Frigidität. Ohne Freude am eigenen oder Körper des anderen, Menschenscheu |
Ammon, G. (1979). Entwurf eines Dynamisch-Psychiatrischen Ich-Struktur-Konzepts – Zur Integration von funktional-struktureller Ich-Psychologie, analytischer Gruppendynamik und Narzißmus-Theorie. In G. Ammon (Hrsg.), Handbuch der Dynamischen Psychiatrie, Band 1 (S. 95–159). Ernst Reinhardt Verlag.
Ammon, G., Finke, G., & Wolfrum, G. (1998). Ich-Struktur-Test nach Ammon (ISTA). Swets & Zeitlingen.
Burbiel, I. (1997). Das Humanstrukturmodell. Dynamische Psychiatrie, 30(1–4), 145–152.
Deutschmann, M. (1979). Die Entwicklung des Trieb- und Ich-Begriffs im Freudianismus. In G. Ammon (Hrsg.), Handbuch der Dynamischen Psychiatrie, Band 1 (S. 47–95). Ernst Reinhardt Verlag.
Freud, S. (1911). Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides). In Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen III 1911 1.Hälfte (S. 9–68).
Freud, S. (1923). Das Ich und das Es. Internationaler Psychoanalystischer Verlag. https://archive.org/de tails/Freud_1923_Das_Ich_und_das_Es_k/
Freud, S. (1933). Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit. In Neue Folge der Vorlesungen zur Einfüh- rung in die Psychoanalyse (S. 80–111). https://archive.org/details/Freud_1933_Neue_Folge_k
Hartmann, H. (1939). Ich-Psychologie und Anpassungsproblem. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago, 24, 62–135. https://archive.org/details/IZ_XXIV_1939_1_2_k/