Humanstrukturelle Narzissmus-Konzeption

3. Teil der Seminarreihe ‘Grundlagen der Dynamischen Psychiatrie’

Dipl.-Psych. Michael Flor

Mai 2024

Letztes Seminar:
Wo waren wir?

Humanstruktur bzw. das Ich-Struktur-Modell

“Die Dynamische Psychiatrie und ihr theoretisches Fundament, wie es sich im ich-strukturellen Konzept Ammons darstellt, hat einen Teil ihrer historischen Wurzeln in der orthodoxen Freudianischen und ich-psychologischen Psychoanalyse.”
(Deutschmann, 1979, S. 47)

Eine neue (konstruktive) Konzeption der Aggression

“Der erste entscheidende Schritt auf diesem Weg geschah durch die Neuformulierung des Aggressionskonzeptes in den späten sechziger Jahren. In Loslösung von der Freudianischen Theorie des Aggressionstriebes nahm Ammon die Aggression im Sinne des ‘ad gredi’ als eine primär konstruktive Entwicklungskraft des Menschen an”
(Burbiel, 1997, S. 145)

Drei Ausprägungen der Humanfunktionen

konstruktiv destruktiv defizitär
kontaktherstellend, beziehungsstiftend‚ weiterentwickelnd, integrierend, aufbauend. kontaktabbrechend, arretiert, fehlentwickelt, desintegrierend, zerstörerisch. kontakt- und beziehungslos, nicht entwickelt.
Realitätsbezogen Verzerrter Realitätsbezug Fehlender Realitätsbezug

(Ammon et al., 1998 S. 26)

Der Narzissmus in der Dynamischen Psychiatrie

Das Ich-Struktur-Modell:
Eine Abstraktion aus vielfältigen genetischen, energetischen, gruppendynamischen und strukturellen Prozessen

Drei Ausprägungen der Humanfunktion Narzissmus

konstruktiv desktruktiv defizitär
Freundliche und realitätsgerechte Einstellung zu sich selbst, positives Gefühl der eigenen Bedeutung u. Wichtigkeit, liebevoller Umgang mit eigenen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen, dem eig. Körper, Schwächen Unrealistische Selbsteinschätzung, privatistische Wahmehmungswelt, Negativismus, häufiges Gekränktsein, Gefühl nicht verstanden zu werden. Unfähigkeit, Kritik oder Zuwendung (“Sozialenergie”) anzunehmen Fehlender Bezug zu sich selbst, fehlende Selbstliebe. Gefühl eig. Bedeutgslosigk. Austauschbarkeit. Zurücknahme eigen. Interessen und Bedürfnisse. Wird häufig übersehen und vergessen

(Ammon et al., 1998 S. 26)

Narzissmus bei S. Freud

Wie kam der Narzissmus in die Psychoanalyse?

Der deutsche Psychiater Paul Adolf Näcke führte 1899 den Begriff Narzissmus als Neologismus ein “zur Bezeichnung jenes Verhaltens […], bei welchem ein Individuum den eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts” (Freud, 1924, S. 3).

Entwicklungsstadium nicht Pathologie

“Schon mit seiner ersten einschlägigen Äußerung zum Narzissmus (anlässlich des Vortrages von Isidor Sadger im November 1909) bricht Freud mit der bis dahin gültigen sexualwissenschaftlichen Doktrin eines pathologischen Narzissmus – und bezeichnet diesen als notwendiges Entwicklungsstadium auf dem Weg zur reifen Objektliebe – er normalisiert den Narzissmus.”
(Zenaty, 2022, S. 153)

Primärer und sekundärer Narzissmus

“Ökonomisch wird Narzißmus als libidinöse Besetzung der eigenen Person verstanden, entweder als ein sehr frühes, nach klassischer Auffassung normales Stadium, als ‘primärer Narzißmus’, oder als (pathologische) Rückkehr zu demselben, als ‘sekundärer Narzißmus’.”
(Pawlowsky, 2000)

Narzissmus, Psychosen und Übertragungsbereitschaft

Karl Abraham (1908) “knüpfte an Freuds Konzept des Autoerotismus von 1905 an und beobachtete beim Psychotiker eine entsprechende Regression. ‘Der Geisteskranke überträgt die gesamte Libido, die der Gesunde all den lebenden und unbelebten Objekten der Umgebung zuwendet, allein auf sich selbst als sein einziges Sexualobjekt.’”
(vergleiche Zenaty, 2022, S. 126)

Narzissmus begründet Behandlungsresistenz

“Ihr Verhalten beim therapeutischen Versuch bestätigt nun diese Vermutung. Sie zeigen keine Übertragung und darum sind sie auch für unsere Bemühung unzugänglich, durch uns nicht heilbar.”
(Freud, 1926, S. 476)

S. Freuds Wandlung des energetischen Prinzips

Narzissmus und Ich wandeln Libidotheorie

“Unserer Libidotheorie lag zunächst der Gegensatz von Ichtrieben und Sexualtrieben zu Grunde. Als wir dann später begannen, das Ich selbst näher zu studieren und den Gesichtspunkt des Narzißmus erfaßten, verlor diese Unterscheidung selbst ihren Boden.”
(Freud, 1933, S. 141)

Das Ich als ‘Hauptreservoir der Libido’

“Man lernt verstehen, daß das Ich immer das Hauptreservoir der Libido ist, von dem libidinöse Besetzungen der Objekte ausgehen, und in das dieselben wieder zurückkehren, während der Großteil dieser Libido stetig im Ich verbleibt.”
(Freud, 1933, S. 141)

Den Begriff ‘Libido’ fallen lassen?

“Es wird also unausgesetzt Ichlibido in Objektlibido umgewandelt und Objektlibido in Ichlibido. Dann können die beiden aber ihrer Natur nach nicht verschieden sein, dann hat es keinen Sinn, die Energie der einen von der der anderen zu sondern, man kann die Bezeichnung Libido fallen lassen oder sie als gleichbedeutend mit psychischer Energie überhaupt gebrauchen.”
(Freud, 1933, S. 141)

Vom Körperlichen zum Symbolischen

Die Wandlung des Energie-Konstrukts (weg vom Körperlichen, hin zum Symbolischen) lässt sich auch anhand der Darstellungen des topischen Modells und später der Ich-Struktur nachvollziehen.

Die ‘psychische Energie’ bei S.Freud und Hartmann

Die libidinöse Energie
und das Ich bei Freud

“In dynamischer Hinsicht ist [das Ich] schwach, seine Energien hat es dem Es entlehnt, und wir sind nicht ganz ohne Einsicht in die Methoden, man könnte sagen: in die Schliche, durch die es dem Es weitere Energiebeträge entzieht.”
(Freud, 1933, S. 107)

Transformation der Energie bei Freud ungeklärt

“Die Frage der Transformation von Triebenergie in Ich-Energie bleibt innerhalb des Freudschen Modells nach wie vor ungeklärt. […] Konflikte kreisen um die lebensgeschichtlich ‘ödipale’ Problematik und sind intersystemischer Art.”
(Deutschmann, 1979, S. 64)

Energie der Ich-Psychologie an Triebe geknüpft

Hartmann (1955) definiert Neutralisierung als “den Wechsel libidinöser wie aggressiver Energie vom triebhaften zu einem nichttriebhaften Modus”. Die Sublimierung ist jetzt ein Spezialfall der Neutralisierung, denn die Umwandlung aggressiver Strebungen wird explizit zur bisherigen Umwandlung bloß libidinöser Tendenzen hinzugenommen.

Humanstruktur: Narzissmus, Entwicklung und Energie

Gruppendynamische Energie

“Indem ich an die Stelle des Freudschen Instanzenmodells ein gruppenabhängiges und gruppenbezogenes Ich-Struktur-Modell setze, wird […] die energetische Frage nicht mehr biologisch, sondern gruppendynamisch und psychodynamisch gelöst.”
(Ammon, 1979, S. 107)

Doppelcharakter: Entwicklung und Energie

“der Begriff des Narzissmus [hat] in meinem [humanstrukturellen] theoretischen System einen Doppelcharakter. […] einerseits als zentrale Ich-Funktion des konstruktiven Narzissmus im Sinne […] kindlicher Entwicklung, andererseits […] im Sinne eines energetischen Prinzips.”
(Ammon, 1979, S. 107)

Gruppe als Quelle des Energiereservoirs

Die Essenz des Doppelcharakters lässt sich im Text so zusammenfassen:

ich-strukturell = Potentialität kindlicher Entwicklung
Gruppenaspekt = ein energetisches Prinzip

Konstruktiver Narzissmus und Identität

Entwicklung und Identität

“Die narzisstische Zufuhr aus der umgebenden Gruppe ist nicht nur für das Energiereservoir des sich entwickelnden Ich verantwortlich, sondern auch für dessen Identität.”
(Ammon, 1979, S. 110f.)

Frühe Gruppenerfahrung und Identität

“Die zentrale Ich-Funktion der Identität eines jeden Menschen ist von narzisstischer Bestätigung in elementarer Weise abhängig. Wird diese von der frühen Familiengruppe verweigert, bedingt dies ein Identitätsverbot.”

Lustvolle Bejahung eigener Körperlichkeit

Der konstruktive Narzissmus “geht einher mit einer lustvollen Bejahung der eigenen Körperlichkeit, der eigenen Interessen, der eigenen Geistigkeit und Ideen, die als genuin ich-haft, als freudvoll und auch mit einer gewissen erotischen Spannung erlebt werden können.”

Kreative Gruppen mit flexiblen Gruppengrenzen

“Der konstruktive Narzissmus kann nur in kreativen Gruppen mit flexiblen Gruppengrenzen entstehen, er ist ein Resultat von gelebter Beziehung. Insofern ist die gesunde Selbstliebe, die mit dem konstruktiven Narzissmus einhergeht, immer zugleich auch eine beziehungsvolle. Eine wirkliche Selbstliebe ohne gleichzeitigen Gruppenbezug ist undenkbar.”

Schuldfreie Abgrenzung aus Mutter-Kind-Symbiose

“Natürlich impliziert der konstruktive Narzissmus auch eine schuldfreie Abgegrenztheit aus der frühen Mutter-Kind-Symbiose. Denn erst die elementare Erfahrung des Sich-trennen-Dürfens von der Mutter und des dabei Nicht-verlassen-Werdens, sondern der weiteren Zuwendung auf einem anderen Niveau, macht eine liebevolle Beziehung Zur eigenen Gesamtpersönlichkeit möglich.”

Narzissmus und Strukturentwicklung

“Der konstruktive Narzissmus ist […] nicht nur eine abstrakt energetisch zu denkende Komponente psychischen Geschehens, sondern narzisstische Energie wird sich immer in Strukturentwicklung binden.”

Literatur

Literatur (1/3)

Ammon, G. (1979). Entwurf eines Dynamisch-Psychiatrischen Ich-Struktur-Konzepts – Zur Integration von funktional-struktureller Ich-Psychologie, analytischer Gruppendynamik und Narzißmus-Theorie. In G. Ammon (Hrsg.), Handbuch der Dynamischen Psychiatrie, Band 1 (S. 95–159). Ernst Reinhardt Verlag.

Ammon, G. (1979). Was ist Dynamische Psychiatrie? In G. Ammon (Hrsg.), Handbuch der Dynamischen Psychiatrie, Band 1 (S. 5–12). Ernst Reinhardt Verlag.

Ammon, G., Finke, G., & Wolfrum, G. (1998). Ich-Struktur-Test nach Ammon (ISTA). Swets & Zeitlingen.

Burbiel, I. (1997). Das Humanstrukturmodell. Dynamische Psychiatrie, 30(1–4), 145–152.

Literatur (2/3)

Deutschmann, M. (1979). Die Entwicklung des Trieb- und Ich-Begriffs im Freudianismus. In G. Ammon (Hrsg.), Handbuch der Dynamischen Psychiatrie, Band 1 (S. 47–95). Ernst Reinhardt Verlag.

Freud, S. (1924). Zur Einführung des Narzißmus. https://archive.org/details/Freud_1924_Narzissmus_k

Freud, S. (1926). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (3. Aufl.). Internationaler Psychoanalytischer Verlag. https://archive.org/details/Freud_1926_Vorlesungen_Taschenausgabe_3te_k

Freud, S. (1933). Angst und Triebleben. In Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (S. 112–153). https://archive.org/details/Freud_1933_Neue_Folge_k

Literatur (3/3)

Pawlowsky, G. (2000). Narzißmus. In G. Stumm & A. Pritz (Hrsg.), Wörterbuch der Psychotherapie (S. 452– 452). Springer Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-211-99131-2_1215

Zenaty, G. (2022). Sigmund Freud lesen. transcript Verlag. https://doi.org/https://doi.org/10.1515/9783 839461228