Der Wunsch nach Identität und das Herauslösen aus der Herkunftsfamilie bei jungen Menschen findet nicht selten einen ersten Weg über die (sog.) genitale Strebung. Die dadurch erworbene sexuelle Identität hilft, sich in der Adoleszenz zu regulieren und eine eigene Position zu finden. Erst im jungen Erwachsenenalter werden Defizite in anderen Bereichen der Identitätsentwicklung spürbar. Dabei handelt es sich vor allem um erwachsene Rollen, die sich im gesellschaftspolititschen ebenso wie im familiären Kontext abbilden.

Jede Generation wird in veränderte kulturelle, technische und sozialpolitische Bedingungen hineingeboren. Ein Wandel, der sich sich zunehmend zu beschleunigen scheint. Es verwundert deshalb nicht, dass veränderte Entwicklungsaufgaben auch eine Veränderung der beobachtbaren Entwicklungsphasen bedingen, denn hier werden die “psychischen Leistungen der Pubertätszeit vollzogen, die Ablösung von der Autorität der Eltern, durch welche erst der für den Kulturfortschritt so wichtige Gegensatz der neuen Generation zur alten geschaffen wird” (Freud, 1905, S. 67). Die ganze Dramatik der Ablösung von der Autorität der Eltern beschreibt der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott packend: “Wenn das Kind am Übergang zum Erwachsenenalter steht, wird dieser Schritt über die Leiche eines Erwachsenen vollzogen” (Winnicott, 1974, S. 163).

Die Adoleszenz, in der diese Entwicklungsaufgabe verortet ist, geht aufgrund der wachsenden und komplexeren Anforderungen weit über die Pubertät hinaus:

“Tiefgreifende demografische Verschiebungen im letzten halben Jahrhundert haben dazu geführt, dass die Zeit vom späten Teenageralter bis Mitte der Zwanziger nicht nur eine kurze Phase des Übergangs in erwachsene Rollen, sondern ein eigenständiger Lebensabschnitt ist, geprägt von Exploration und Anpassung an mögliche Lebenswege.” (Arnett, 2000, S. 469, Übersetzung M.F.)

In der Psychotherapieforschung hat sich in diesem Zusammenhang der Begriff der “Spätadoleszenz” etabliert (s. z.B. Salge, 2017), den ich jedoch irreführend finde, suggeriert er doch, dass sich das zeitliche Spektrum allgemein nach hinten ausgedehnt hätte und jetzt auf die Adoleszenz eine Spätadoleszenz folge – in manchen Fällen auch noch die “Postadoleszenz”. Diese “stellt eine Übergangsperiode zwischen Adoleszenz und Erwachsenensein dar” (nach Peter Blos, vgl. Seiffge-Krenke, 2020, S. 25).

Doch handelt es sich um keinen allgemeingültigen Entwicklungsabschnitt, sondern eine Phase, die “nur in Kulturen existiert, die den Eintritt in die Erwachsenenrolle und -verantwortung bis weit nach dem späten Teenageralter hinausschieben.” Diese Phasen sind “am ehesten in hochindustrialisierten oder postindustriellen Ländern zu finden. In diesen Ländern ist ein hohes Maß an Bildung und Ausbildung für den Eintritt in IT-basierte Berufe erforderlich, die am angesehendsten und lukrativsten sind, so dass viele junge Menschen bis in die Mitte ihrer Zwanziger in der in Schule und Ausbildung bleiben.” (Arnett, 2000, S. 478, Übersetzung M.F.)

Deshalb bevorzuge ich in diesem Zusammenhang die Begriffe Verlängerte Adoleszenz (Bohleber, 1987) oder Emerging Adulthood. Der Begriff Emerging Adulthood (Arnett, 2000) beschreibt ein neues Entwicklungskonzept für den Zeitraum vom späten Teenageralter bis in die späten Zwanziger. Eine befriedigende deutsche Übersetzung dieses Begriffs ist schwer zu finden. Dem Konzept der Emergenz folgend, ließe sich Emerging Adulthood als aufstrebendes, heranwachsendes, entstehendes, sich entwickelndes, auftauchendes Erwachsenenalter beschreiben. Erschaffen wurde dieses Konzept von Jeffrey Arnett, der neben den oben zitierten “demografischen Verschiebungen” vor allen Dingen auch einen notwendigen kulturellen Kontext ausmacht, der eine längere Phase der unabhängigen Rollenerforschung zulässt.

Verlängerte Adoleszenz und Identitätsentwicklung
Das Alleinstellungsmerkmal von Arnett (2000), dass eine verlängerte Adoleszenz vorrangig in postindustriellen Ländern beobachtbar ist, bedeutet keinen ursächlichen Zusammenhang mit Ausbildungs- und Arbeitswelten. Vielmehr ist die Identitätsbildung – die sich in der Gruppe vollzieht – von Bedeutung:

“Ein wichtiges Charakteristikum der Spätadoleszenz ist auch die Unvollkommenheit und Offenheit der getroffenen Lösungen. Werden die integrierenden Fähigkeiten eines Individuums nur partiell überfordert, kommt es zu Aufschubmanövern und einer verlängerten Adoleszenz. Nimmt das adaptive Mißlingen eine endgültige Form an, dann erfolgt der Zusammenbruch und die eigentliche Identitätskrise.” (Bürgin & Biebricher, 1993, S. 95)

Der Psychoanalytiker Erik Erikson sieht die Identitätsbildung als Teil einer Reihe epigenetischer Entwicklungsstufen, die er in Zusammenarbeit mit Joan Erikson im Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung beschrieb. Heranwachsende müssen ihre verschiedenen, manchmal widersprüchlichen Identifizierungen mit einer inneren Transformation bewältigen, indem sie ein einigermaßen kohärentes Ganzes herstellen.

“Identität, die am Ende der Kindheit zum bedeutendsten Gegengewicht gegen die potenziell schädliche Vorherrschaft des kindlichen Über-Ichs wird, erlaube dem Individuum sich von der übermäßigen Selbstverurteilung, dem diffusen Hass auf Andersartiges zu befreien” (Erikson, 1966, S. 212).

Das soziale Umfeld – vor allem auch die für die Adoleszenz typische Peer-Group – ist bei Erikson eine der wesentlichen Bedingungen für eine erfolgreiche psychische Integration. Die innere Einheit und Kontinuität können nur aufrechterhalten werden, wenn diese – und das erinnert an die Selbstpsychologie von Kohut – auch als solche durch bedeutungsvolle Andere so gesehen wird. Das Subjekt braucht den Anderen, um sich selbst zu begreifen und ein Gefühl von Identität zu entwickeln.

So beginnt im Leben – und eventuell einer begleitenden Therapie – die “kontinuierliche Arbeit am eigenen Identitätsentwurf”, “eine der zentralen Herausforderungen dieses biografischen Abschnitts” (Salge, 2017, S. 41).

Literaturverzeichnis

Arnett, J. J. (2000). Emerging Adulthood: A Theory of Development From the Late Teens Through the Twenties. American Psychologist, 469–480. https://doi.org/10.1037//0003-066X.55.5.469

Bohleber, W. (1987). Die verlängerte Adoleszenz. Identitätsbildung und Identitätsstörungen im jungen Erwachsenenalter. Jahrbuch der Psychoanalyse, 21, 58–84.

Bürgin, D., & Biebricher, D. (1993). Soziale und antisoziale Tendenz in der Spätadoleszenz. In M. Leuzinger-Bohleber & E. Mahler (Hrsg.), Phantasie und Realität in der Spätadoleszenz (S. 87–102). Springer.

Erikson, E. H. (1966). Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp.

Freud, S. (1905). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Franz Deuticke. https://archive.org/details/Freud_1905_Drei_Abhandlungen

Salge, H. (2017). Analytische Psychotherapie zwischen 18 und 25 - Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten (2. Aufl.). Springer.

Seiffge-Krenke, I. (2020). Jugendliche in der Psychodynamischen Psychotherapie (4. Aufl.). Klett-Cotta.

Winnicott, D. W. (1974). Vom Spiel zur Kreativität. Klett-Cotta.