Begriffe wie Mehrgenerationenkonflikt oder transgenerationale Weitergabe werden erst seit wenigen Jahrzehnten in den Sozial- und Naturwissenschaften intensiv diskutiert. Die Mechanismen einer transgenerationalen Weitergabe sind nicht endgültig geklärt – und werden es wohl auch nie sein, denn wie kein anderes Konfliktthema ist es multifaktoriell eingebettet in intrapsychische, interpersonelle, soziologische und kulturelle und inzwischen auch molekularbiologische Prozesse.
Der Molekularbiologie erschließt sich die die transgenerationale Weitergabe über das Konzept der Epigenetik. Forscher:innen beschwören den Beginn eine “molekularen Psychiatrie” (Hime et al., 2021), weisen die transgenerationale Weitergabe von Stress im Plasma von Mäusen nach (Dietz et al., 2011) und entwerfen mögliche Prozesse der Weitergabe auf molekularer Ebene (vgl. z.B. „RNA-mediated inheritance“ Gapp et al., 2021), oder – in der Ätiologie der Depression – auch über die genetisch determinierte Entwicklung des biologischen Geschlechts (Cahill et al., 2021).
In der Psychotherapie-Forschung manifestieren sich transgenerationale Faktoren in vielen Fällen unerwartet. So stellte Maria Ammon (2002) in ihrer qualitativen Untersuchung “Kindheit und Pubertät schizophren strukturierter Menschen” von Patient:innen und deren Familien erst im Verlauf der Studie fest, dass “bei fünf von den sechs untersuchten Familien Traumata der Eltern vorlagen”: Kriegstraumata, Flucht, Vertreibung, Verwundung, Gefangenschaft (Ammon, 2002, S. 241). Im Verständnis der multifaktoriellen Genese psychischer Störungen ist eine solche Häufung transgenerationaler Traumata auffällig und legt die Vermutung nahe, dass ein ursächlicher Zusammenhang bestehen könnte.
Dass eine transgenerationale Weitergabe existieren müsse, postulierte Sigmund Freud schon vor über hundert Jahren: “Setzen sich die psychischen Prozesse der einen Generation nicht auf die nächste fort, müsste jede ihre Einstellung zum Leben neu erwerben, so gäbe es auf diesem Gebiet keinen Fortschritt und so gut wie keine Entwicklung” (Freud, 1913, S. 190) wobei nur ein Teil über die “Vererbung psychischer Dispositionen” erklärbar sei. Jedoch bleibt es auch für Freud unklar “welcher Mittel und Wege sich die eine Generation bedient, um ihre psychischen Zustände auf die nächste zu übertragen” (ebd.).
Deutlich war Freud auf jeden Fall, “daß keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen. Die Psychoanalyse hat uns nämlich gelehrt, daß jeder Mensch in seiner unbewußten Geistestätigkeit einen Apparat besitzt, der ihm gestattet, die Reaktionen anderer Menschen zu deuten, das heißt, die Entstellungen wieder rückgängig zu machen, welche der andere an dem Ausdruck seiner Gefühlsregungen vorgenommen hat” (Freud, 1913, S. 191).
Dies wird heute auch als “transgenerationale Übertragungsphänomene” (Moré, 2012) beschrieben. Freud hat den Begriff der Übertragung zwar schon Jahre zuvor in “Hysterie und Angst” eingeführt (Freud, 1895, S. 92), aber nicht mit seinen Überlegungen zur oben beschriebenen “Gefühlserbschaft” verbunden. Dass Freud diese Verbindung von interpersonellen und transgenerationalen Prozessen mittels des Übertragungsgeschehens nicht herstellt, wird nachvollziehbarer, wenn man weiß, dass er zeitgleich zu seinen hier zitierten transgenerationalen Überlegungen postulierte, dass das Übertragungsgeschehen primär mit vor- oder unbewussten “libidinösen Regungen” erklärt werden könne (vgl. „Zur Dynamik der Übertragung“ Freud, 1912).
Moré (2012) führt neben den transgenerationalen Übertragungsphänomenen unterschiedliche Ansätze auf. Neben Freuds psychischer “Kontinuität innerhalb der Generationenreihen”, die ich oben kurz erläutert habe, führt Moré auch das Konzept der “Transgenerationalität in der Bindungstheorie” ein. Es ist naheliegend, dass in der frühen Dyade zwischen der primären Bezugsperson und dem Säugling die – wie Winnicott sagt – psychologische Matrix der Mutter eine existenzielle Bedeutung für das Kind bekommt. Wie Winnicott feststellt, ist die Bindung an die primäre Bezugsperson für den Säugling überlebensnotwendig. Dies drückte er in dem Satz aus: “‘So etwas wie einen Säugling gibt es nicht’, was natürlich bedeutet, dass man, wenn man einen Säugling findet, mütterliche Fürsorge vorfindet, und ohne mütterliche Fürsorge gäbe es keinen Säugling.” (Winnicott, 1960, S. 586, Übersetzung Flor)
Den Bezug zu Bindungstheorie und Mutter-Kind-Dyade stellt auch Lenherr (2019) in ihrem Artikel zur transgenerationalen Weitergabe von depressiven Anlagen her. Sie zitiert dazu Ogden (2008), der aus Wilfred Bions Arbeit vier Prinzipien des psychischen Geschehens herauskristallisiert – angelehnt an Freuds “Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens” (Lust- und Realitätsprinzip) aus dem Jahr 1911. Das zweite postulierte Prinzip Bions – “it requires two minds to think a person’s most disturbing thoughts” (Ogden, 2008, S. 12) – nimmt die Autorin als Aufhänger für einen möglichen Mechanismus der transgenerationalen Weitergabe, denn der “Satz könnte diesfalls so weitergehen: … den Kopf einer/s Überlebenden und den ihres/seines Kindes, oder vielleicht sogar Enkels. Das ist eine mögliche Erklärung für das Auftreten von unerklärlichen Sorgen, panischer Angst und Albträumen bei den Kindern und Enkelinnen/Enkeln von Überlebenden eines Traumas” (Lenherr, 2019, S. 98).
Bions Überlegungen gehen nicht in diese Richtung, denn er bezieht sich auf die Objektbeziehungstheorie, was an einer anderen Stelle bei Bion deutlich wird:
“Normalerweise wird die Persönlichkeit des Säuglings, wie andere Elemente der Umwelt von der Mutter gesteuert. Wenn die Mutter und Kind aufeinander eingestellt sind, spielt die projektive Identifikation eine wichtige Rolle bei der Steuerung; der Säugling ist in der Lage, durch einen rudimentären Sinn für die Realität, sich so zu verhalten, dass projektive Identifikation, normalerweise als omnipotente Phantasie, ein realistisches Phänomen ist. Ich bin geneigt zu glauben, dass es sich dabei um den normalen Zustand handelt.” (Bion, 1967, S. 182, Übersetzung Flor)
Die Rolle von Melanie Kleins Begriff der projektiven Identifikation in Bezug auf die transgenerationale Weitergabe finde ich hier sehr spannend. Denn es sind ja gerade abgespaltene Anteile, wie sie auch bei seelischen Traumata entstehen können, die in diesem unbewussten Abwehrmechanismus über die Projektion in der anderen Person hervorgerufen werden. Otto Kernberg sieht die projektive Identifikation auch als Ursache für die oft heftigen Gegenübertragungsgefühle bei Borderline-Patient:innen.
Wäre es nicht denkbar, dass die projektive Identifikation in der Dyade in beide Richtungen wirksam ist – und so eine Brücke zwischen den Generationen bildet? Es scheint mir möglich anzunehmen, dass bei schweren seelischen Traumata abgespaltene Anteile in Form von projektiver Identifikation dazu führen, dass auch die primäre Bezugsperson in den Säugling hineinprojiziert. Der Säugling kann diese nicht containen und wird seinen heftigen, unerträglichen Zustand als Realität erleben – im Sinne des von Bion beschriebenen “rudimentären Sinn für die Realität”.
In Melanie Kleins Denken geht die projektive Identifikation jedoch immer vom Kind aus – und die Mutter muss mit diesem Prozess angemessen umgehen. “Bei ausreichender Aufnahmefähigkeit und Empathie kann die Mutter die unbewältigten emotionale Zustände und Affekte, die der Säugling in sie hineinprojiziert, aufnehmen, verstehen, dadurch modifizieren und dem Säugling in erträglich gemachter Form zurückgeben, was die Integration des Ichs und sein Wachstum fördert.” (Wirtz, 2021) Der mögliche Übergang von einer Generation in die andere bleibt in der Objektbeziehungstheorie deshalb ungeklärt.
Mir scheint der Symbiosekomplex von Günter Ammon in diesem Zusammenhang hilfreicher und anschaulicher als die Objektbeziehungstheorie. Psychische Störungen in der frühkindlichen Entwicklung entstehen im Verständnis des Symbiosekomplexes nicht in der konflikthaften Dyade zwischen (über- oder unterversorgender) Mutter und (oral-aggressivem) Kind. Vielmehr erklärt sich die Genese psychischer Störungen über Gruppenprozesse in der “Primärgruppe” – in der Regel gleichzusetzen mit der Herkunftsfamilie und anderen, damit eng verbundenen Menschen. In diesem Gefüge entstehen “Ich-Struktur-Defizite, die auf jeweils spezifische Störungen der Ich- und Identitätsentwicklung einer Primärgruppe zurückzuführen sind, die unfähig ist, das Kind in seiner Entwicklung zu fördern und zu unterstützen” (Ammon et al., 1979, S. 285).
Auch wenn Ammon die transgenerationale Weitergabe nicht explizit nennt, ist die Möglichkeit in diesem Konzept implizit angelegt – denn die Ätiologie von Entwicklungsstörungen in der Primärgruppe stellt immer auch eine Öffnung zu vorherigen Generationen dar. Die Eltern entwickelten sich als Kinder in den Gruppenprozessen ihrer Herkunftsfamilie, waren im Alltag und mit den Schicksalen dieser Generation verbunden. Diese Verbindung entfaltet sich weiter in die Vergangenheit, so wie jede hölzerne Matrjoschka immer aus einer vorherigen Matrjoschka zu schlüpfen scheint. Diese Verbindung – wie eine Nabelschnur der Familienschicksale – kann einen positiven sowie negativen Einfluss auf die Ich- und Identitätsentwicklung nehmen.
Desweiteren ist die Primärgruppe nicht auf die Dyade oder Triade des Kindes mit den Eltern begrenzt. So gesehen scheint das Konzept sehr zeitgemäß, lässt es doch Raum für ein freieres Familienkonzept (Patchwork-Familie, Alleinerziehende, Mehr-Generationen-Haus).
Literaturverzeichnis
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Gapp, K., Parada, G. E., Gross, F., Corcoba, A., Kaur, J., Grau, E., Hemberg, M., Bohacek, J., & Miska, E. A. (2021). Single paternal dexamethasone challenge programs offspring metabolism and reveals multiple candidates in RNA-mediated inheritance. iScience, 24(8), 102870. https://doi.org/10.1016/j.isci.2021.102870
Hime, G. R., Stonehouse, S. L. A., & Pang, T. Y. (2021). Alternative models for transgenerational epigenetic inheritance: Molecular psychiatry beyond mice and man. World J Psychiatry, 11(10), 711–735. https://doi.org/10.5498/wjp.v11.i10.711
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