Zusammenfassung:
Aktuelle Probleme und Konflikte bewegen Menschen eine psychotherapeutische Behandlung zu beginnen. Ist es deshalb überflüssig den Blick auch auf die Vergangenheit zu richten? In der Psychodynamischen Arbeit versteht man das Gegenwartsunbewusste als Bindeglied zwischen dem Hier-und-Jetzt und dem Dort-und-Damals. Ein wirkmächtiges Mittel, um das Abgewehrte ins Bewusstsein zu heben, sind die Stuhl-Techniken der Gestalttherapie.

Das in der Gestalttherapie so wichtige Verständnis vom Hier und Jetzt in der therapeutischen Sitzung spielt auch in vielen psychodynamischen Behandlungen struktureller Defizite eine zentrale Rolle. Aufbauend auf den Ansatz der psychoanalytisch-interaktionellen Methode, bei der es “einer sorgfältigen Beachtung der manifesten Interaktionen und der Verarbeitung der Gegenübertragung des Therapeuten gegenüber dem Patienten” bedarf (Heigl-Evers & Ott, 2000, S. 67) und einem Kernelement der übertragungsfokusierten Psychotherapie, die “die Übertragungsbeziehung untersucht, um die inneren Beziehungsmuster zu verstehen, die den Gefühlszuständen und Verhaltensweisen des Patienten zugrunde liegen, ohne ihm bewusst zu sein” (Kernberg et al., 2017, S. 40). In beiden Fällen geht es darum in der Gegenwart der Begegnung zu arbeiten, also dem Gegenwartsunbewussten.

Im Gegenwartsunbewussten (im Gegensatz zum Vergangenheitsunbewussten), im Verständnis von Sandler & Sandler (1985), “tritt das dynamische lebensgeschichtliche Unbewusste im Hier und Jetzt in Aktion” (Krause, 2003, S. 323), darin zeigen sich also – bildhaft gesprochen – die “unbewussten Abkömmlingen der Grundkonflikte” (Jungclaussen, 2019, S. 205).

In der Arbeit mit dem Gegenwartsunbewussten – also der aktuellen Konfliktdynamik der Patient:innen – habe ich die Technik des leeren Stuhls bzw. den Stuhl-Dialog als sehr wirksames Mittel zur Klärung und Deutung erlebt. Die Arbeit mit Stühlen hat in den vergangenen Jahren durch die Schematherapie – in der Stühle als Repräsentanzen einzelner Modi eingesetzt werden, mit der die Patient:innen in Dialog treten – viel Aufmerksamkeit erfahren (Young et al., 2005). Und auch die systemische Therapie bedient sich dieser Technik in der Arbeit mit Platzhaltern, die als “artverwandt mit der Stuhlarbeit in der Gestalttherapie” (Abram, 2013, S. 124) gilt. Doch den “Grundstein zu dieser Technik (des leeren Stuhls) legte Jacoby Levy Moreno (Begründer des Psychodramas), weiterentwickelt wurde sie von Fritz Perls, dem Vater der Gestalttherapie, der regelmäßig zu den Moreno-Workshops in Beacon Hill kam” (Leveton, 2000, S. 119). Die Wirkmacht des Psychodrama zur Aktualisierung von Konflikten, Struktur- oder Bindungsthemen passte sehr gut zum Fokus der Gestalttherapie auf das Kontaktgeschehen im Hier und Jetzt (Perls et al., 1991, S. 12) und wurde in den letzten Jahrzehnten stark erweitert und systematisiert – so spricht man z.B. heute von Ein-, Zwei- und Mehr-Stuhl-Techniken (Hartmann-Kottek, 2008, S. 198–209).

Die Verbindung zu psychodynamischen Therapieformen – besonders der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie – lässt sich am einfachsten verstehen, wenn man eine Brücke von allgemeinen Wirkfaktoren der Psychotherapie zum Gegenwartsunbewussten schlägt. In seiner Therapiemethoden-übergreifenden Forschung empirisch validierter Wirkfaktoren konnte Grawe (1995) fünf Wirkfaktoren identifizieren, wovon einer – der Wirkfaktor Problemaktualisierung – sich dadurch auszeichnet “Probleme, die in der Therapie verändert werden sollen, dem Patienten unmittelbar erfahrbar” zu machen (Grawe, 2005, S. 7). Probleme zu aktualisieren und somit unmittelbar erfahrbar zu machen scheint mir eng mit Indikation und Behandlungsplan der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie (TP) verbunden, denn die “TP fokussiert (…) ganz überwiegend auf das Gegenwartsunbewusste, also auf die aktuelle Konfliktdynamik” (Jungclaussen, 2019, S. 52).

Wöller & Kruse (2015) beschreiben den gleichen Zusammenhang in anderen Worten, wenn sie sagen, dass das Gegenwartsunbewusste “infantile Kernkonflikte in abgeleitete Konflikte” umwandelt (Wöller & Kruse, 2015, S. 148). Die Autoren gehen aber noch einen Schritt weiter und postulieren in ihrem Standardwerk Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie die Arbeit mit dem Gegenwartsunbewussten als zentral für die TP und differentialdiagnostisch als Abgrenzung zur AP:

“Für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist überwiegend die Arbeit an den abgeleiteten Konflikten oder Fokalkonflikten entscheidend. Erweist sich die Arbeit an Kernkonflikten als notwendig, so ist im Allgemeinen eine analytische Psychotherapie indiziert” (Wöller & Kruse, 2015, S. 148).

Ist die Arbeit an Kernkonflikten hingegen nicht notwendig, können konkrete “therapeutische Techniken wie Imaginationsübungen, Rollenspiele o.ä. die Probleme erlebnismäßig aktualisieren”, sagt Grawe (2005).

Aufgrund der methodischen Nähe zwischen dem Gegenwartsunbewussten und dem Wirkfaktor Problemaktualisierung ist es nicht verwunderlich, dass die Arbeit mit Stühlen auch in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie schon zur Anwendung kommt – wenn auch noch nicht sehr verbreitet. Wenn – so Jaeggi & Riegels (2009) – “die Deutung des Gegenwarts-Unbewussten sinnvoll und notwendig” ist, “insbesondere die Konfliktdeutung (…) für die Arbeit an der zweiten Zensur im Setting der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie”, empfehlen sich “Interventionen, die in der Lage sind, das Abgewehrte ins Bewusstsein zu heben, wie z.B. die Arbeit ‘mit dem leeren Stuhl’” (Jaeggi & Riegels, 2009, S. 68). Den Autor:innen zufolge ist die damit verbundene Problemaktualisierung essentiell. Sie dient der Aufdeckung von Konstruktionen, “die für die pathologische Entwicklung und die entsprechenden pathologischen Überzeugungen verantwortlich sind”.

Literaturverzeichnis

Abram, A. (2013). Gestalttherapie: Therapeutische Skills kompakt, Bd. 5. Junfermann Verlag.

Grawe, K. (1995). Grundriss einer allgemeinen Psychotherapie. Psychotherapeut, 40(3), 130–145.

Grawe, K. (2005). (Wie) kann Psychotherapie durch empirische Validierung wirksamer werden? Psychotherapeutenjournal, 4(1), 4–11.

Hartmann-Kottek, L. (2008). Gestalttherapie. Springer-Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-540-75744-3

Heigl-Evers, A., & Ott, J. (2000). Zur Theorie und Praxis der psychoanalytisch-interaktionellen Methode. Psychotherapie, 5(2), 58–72.

Jaeggi, E., & Riegels, V. (2009). Techniken und Theorie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie (2. Aufl.). Klett-Cotta.

Jungclaussen, I. (2019). Handbuch Psychotherapie-Antrag. Schattauer.

Kernberg, O. F., Yeomans, F. E., & Clarkin, J. F. (2017). Übertragungsfokussierte Psychotherapie für Borderline-Patienten: Das TFP-Praxismanual. Schattauer.

Krause, R. (2003). Das Gegenwartsunbewusste als kleinster gemeinsamer Nenner aller Techniken. Psychotherapie, 8(8), 316–325.

Leveton, E. (2000). Mut zum Psychodrama. Iskopress.

Perls, F. S., Hefferline, R. F., & Goodman, P. (1991). Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. DTV.

Sandler, J., & Sandler, A.-M. (1985). Vergangenheits-Unbewußtes, Gegenwarts-Unbewußtes und die Deutung der Übertragung. Psyche - Zeitschrift für Psychoanalyse, 39(9), 800–829.

Wöller, W., & Kruse, J. (2015). Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (4. Aufl.). Schattauer.

Young, J. E., Klosko, J. S., & Weishaar, M. E. (2005). Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Junfermann Verlag.