Schritt 2: Der ungelöste Grundkonflikt

Spezielle Wünsche aus der frühen Kindheit, die auf wiederkehrende und krisenhafte Weise durch frühe Beziehungskonflikte oder aufgrund von individuellen Unzulänglichkeiten der Eltern unerfüllt blieben, verdichten sich mitsamt den dazugehörigen Gefühlen zu einem ungelösten unbewussten inneren Grundkonflikt.1


Der Blick richtet sich bei der Benennung des Grundkonflikts - wie oben beschrieben - auf frühe Beziehungskonflikte, bzw. Defizite der frühen Herkunftsfamilie oder -gruppe die Wünsche aus der frühen Kindheit zu erfüllen. Meine Gitarre bleibt stumm. Aber wir können für unser Psychodynamik-Experiment den Blick auf die Herkunftsfamilie richten: den Instrumentenhersteller ROA.

Der ungelöste Grundkonflikt ist wichtig im Bericht und sollte benannt werden. Für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist er nicht Gegenstand der Behandlung, sondern stellt als Disposition den “Nährboden für die spätere Reaktualisierung des Konflikts im Hier und Jetzt dar”2.

Wie ein Grundkonflikt zu benennen ist, dazu gibt es vielfältige Antworten. Ich mache es mir einfach und wähle aus dem Menü der vier von Rudolf (2008a; 2010) herausgearbeiteten Grundkonflikte:

  • Grundkonflikt der Nähe
  • Grundkonflikt der Bindung (der depressive Grundkonflikt)
  • Grundkonflikt der Autonomie
  • Grundkonflikt der Identität

Neben der Atmosphäre der aktuellen Symptome und meiner Gegenübertragung nutze ich für die Benennung des Grundkonflikts vor allem die Recherche der “frühkindlichen” Biographie.3

Zusammenfassend aus dem letzten Kapitel: Meine Gitarre stammt aus den 1930er Jahren. Nach der Weltwirtschaftskrise fertigen Instrumentenbauer als zusätzliches finanzielles Standbein Gitarren an. Die Holzblasinstrumentenbauer haben meine Gitarre mit wenig handwerklicher Liebe und Stolz hergestellt. Der Begriff “stiefmütterlich” kommt mir in den Sinn. In der allgemeinen wirtschaftlichen Not sind zugelieferte Materialien von geringer Qualität.

Ich lege mich auf den Grundkonflikt der Identität fest. (Dabei geht es in erster Linie um die Identität des Instruments - aber natürlich vor dem Hintergrund der Herkunftsfamilie.)

Grundkonflikt der Identität

Im Bericht genügt oft auch ein Satz, in dem der Grundkonflikt “benannt” wird. Dennoch mache ich mir an diesem Punkt immer viele Gedanken über den theoretischen Hintergrund vor dem ich den Grundkonflikt festlege. Denn in dem gleichen Denkgebäude bewege ich mich ja auch in den folgenden Schritten der Psychodynamik. Das Theoriegebäude der Psychodynamik sollte in sich geschlossen und frei von Widersprüchen sein. Jungclaussen bietet wiederholt die vier großen Schulen an: Triebpsychologie, Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie und die Selbstpsychologie.4

Als zweite Quelle möglicher Konflikte, die als Grundkonflikt benannt werden könnten, dient die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD). In der OPD-Systematik gibt es acht Grundkonflikte, aus denen man wählen könnte.5

Zwei OPD-Konflikte kämen auf den ersten Blick in Frage:

  • Selbstwert vs. Objektwert: Selbstwertkonflikte führen dazu, dass vor dem Hintergrund der eigenen Minderwertigkeit andere aufgewertet oder idealisiert werden. Oder das Gegenteil ist der Fall: das Selbstbild wird kompensatorisch überhöht (bis hin zum Größenwahn), während andere abgewertet werden.

  • Identitätskonflikte: die eigene Identitätsambivalenz wird kompensiert, indem andere Rollen oder Identitäten (auch von Gruppen) übernommen werden.

Beide Konflikte decken sich in meinem Empfinden nicht wirklich mit dem Ergebnis der Anamnese. Der Vollständigkeit halber habe ich den OPD-2 in diesem Kapitel mit aufführen wollen, denn im Bericht an den/die Gutachterin spielt die OPD-2 Klassifikation eine wachsende Rolle.6

Für meine Gitarre wähle ich die Selbstpsychologie als theoretisches Konstrukt. Bei Themen der Identität, fällt meine Wahl oft auf diese Schule als treffendste und schlüssigste Herleitung.

Dieses Psychodynamik-Gitarren-Experiment steht unter der Überschrift “Konfliktstörungen”. In der Selbstpsychologie geht es jedoch weniger um Konflikte, sondern eher um Entwicklungsstörungen - auf dem Weg zu einem gesunden Selbst. Wir sprechen folglich nicht von einem Grundkonflikt sondern einer Grundstörung des Selbst.

Bevor ich die Grundstörung des Selbst in der Sprache der Selbstpsychologie formuliere, hier noch einmal in einfacher Sprache:

Meine Gitarre ist kein Wunschkind, sondern geboren aus Notwendigkeit. Ihre “Eltern” fühlen sich wenig mit dem Saiteninstrument verbunden, sind sie doch Holzblasinstrumentenbauer. Die Familie ist nicht stolz auf ihre Gitarre. Die Gitarre ist kein Qualitätsprodukt, sondern soll sich gut verkaufen. Sie entwickelt deshalb keine Identität als Gitarre, die inspiriert und Großes vollbringen wird. Vielmehr lernt das Instrument schnell, dass es in erster Linie funktionieren muss, dass es gefallen soll.

Für den Bericht würde ich zusammenfassend schreiben:

Die Herkunftsfamilie der Gitarre waren als Holzblasinstrumentenbauer nicht in der Lage sich empathisch auf das Gitarren-Kind einzustellen. In Folge manifestierte sich ein unbewusster Grundkonflikt der Identität, da diese Selbstobjektbedürfnisse der Gitarre wiederholt enttäuscht wurden. Aus dem permanenten Konflikt zwischen drängenden Selbstobjektbedürfnissen und der prophylaktischen Abkehr aufgrund erfahrener Enttäuschung entstand als Grundstörung ein fragmentiertes Selbst.

Ganz knapp gefasst - vielleicht sogar knackiger - könnte man auch schreiben:

Hineingeboren in eine Familie von Holzblasinstrumentenbauer/innen manifestierte sich in der Gitarre ein Grundkonflikt der Identität, da ihre Selbstobjektbedürfnisse von Beginn an frustriert wurden.


  1. Jungclaussen (2018: 178)↩︎

  2. Jungclaussen (2018: 178)↩︎

  3. Was meine Gitarre und ich nicht zustande brachten waren die üblichen umfangreichen Gespräche und Explorationen im Verlauf der Anamnese.↩︎

  4. Auf die einzelnen Schulen einzugehen, würde - wie man gerne sagt - den Rahmen sprengen. Die unterschiedlichen Blickwinkel der theoretischen Ansätze für den Grundkonflikt werden hier beschrieben: Jungclaussen (2018: 181)↩︎

  5. Das OPD-Verständnis von Grundkonflikten weicht allerdings in manchen Punkten vom Faber/Haarstrick Kommentar zu den Psychotherapie-Richtlinien. Deshalb findet sich in Berichten, die mit OPD-Konflikten arbeiten, oft die Formulierung Konfliktbereitschaft anstatt Grundkonflikt. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass auch die Konfliktbereitschaft in Berichten anstandslos akzeptiert wurde.↩︎

  6. Für die Erstellung eines Berichts ist das Buch “OPD-2 im Psychotherapie-Antrag” lesenswert.↩︎